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Auf Taschenmonster-Jagd

von Nicole Chemnitz

Mama, gehen wir heute noch mal spazieren? Mama, bist Du heute beim Einkaufen an den „Stolpersteinen“ vorbeigekommen? Nein, ich habe kein Kind mit außergewöhnlichem Interesse an der Natur, frischer Luft und historischen Orten – ich habe einen kleinen Pokémon-Go-Fan. Und das eröffnet für die ganze Familie völlig neue Perspektiven.

Seit Jahren beschäftigt sich mein Sohn mit den kleinen Pocket-Monstern. Beim Erscheinen des Spiels Pokémon Go war klar: Lange kann ich das nicht von ihm fernhalten. Aber nach den Horrorgeschichten, dass Spieler in Hinterhalte gelockt wurden, auf Bahnschienen oder in militärischen Sperrzonen landeten – mal abgesehen davon, dass sie nur noch mit dem Handy vor der Nase herumlaufen und ein gewisser Suchtfaktor mitschwingt – ist man als Mutter ja erst mal vorsichtig.

Mehr Bewegung und Zusammenhalt

Nun leben wir seit einigen Wochen mit Pokémon Go und nicht nur mein Sohn, auch ich bin völlig fasziniert. Während es ihm natürlich vorrangig darum geht, möglichst von jeder Art eines zu ergattern, stelle ich fest, mit wie vielen Leuten er an den einzelnen Pokéstops in Kontakt kommt. Er verabredet sich mit Freunden zu gemeinsamen Arenakämpfen, die sind virtuell, das Treffen aber real. Sie gehen gemeinsam auf Streifzüge, auch wenn wir uns (bisher) von groß organsierten Pokémon-Jagden ferngehalten haben.

Aber dennoch wundert mich nicht, dass eine Studie der TU Braunschweig zeigt: Pokémon Go führt zu mehr Bewegung und Zusammenhalt. Etwa 60 Prozent der Befragten äußerten, dass sie durch das Spiel öfter draußen sind als vorher, circa 55 Prozent gaben an, dass sie gelegentlich Umwege in Kauf nehmen, um spielrelevante Orte zu besuchen. Über 40 Prozent äußerten, sich anderen Spielern verbunden zu fühlen und Teil einer Gruppe zu sein. Das Auto wird öfter stehengelassen, stattdessen lieber zu Fuß gegangen und das Wohnumfeld wird neu entdeckt.

Detailliertes Umfeld: Woher stammen die Daten?

Während ich all dies unterschreiben kann, ist insbesondere der letzte Aspekt für mich besonders beeindruckend. Dank Pokémon Go sehen mein Sohn und ich unsere Umwelt mit völlig neuen Augen, denn vor dem Spiel wusste ich nicht, wo sich diese Stolpersteine in Gedenken an jüdische Familien in meiner Gegend befinden. Ich hatte diese Dekokrüge am Straßenrand noch nie wahrgenommen und nicht gewusst, wie die einzelnen Straßenkreisel in unserem Ort heißen. In fremden Städten entdecken wir alle wichtigen Sehenswürdigkeiten und erhalten direkt die Erklärungen dazu. Mein Sohn führt uns stolz dorthin.

Da stellt sich mir natürlich die Frage, wie das wohl geht. Woher weiß Pokémon Go mehr über meinen Wohnort als die Einheimischen oder die vor Ort verfügbaren Stadtpläne? Die Augsburger Allgemeine beruft sich auf eine Münchener Agentur, die mit dem Hersteller zusammenarbeitet: Pokémon Go beruhe in Teilen auf der App Ingress des gleichen Herstellers Niantic Labs, für die die Spieler 15 Millionen interessante Orte gemeldet haben. Hinzu kommt, dass Niantic ein internes Start-up von Google ist, das Spiel demzufolge bestimmt die Geodaten von Google Maps verwendet. Und dennoch bleibt das Ganze ein Mysterium für mich, denn ein Eintrag im Internet besagt, dass Google Bilder der von uns besuchten Stolpersteine für Google Earth und Google Maps nicht ausgewählt hat und die Suche danach ergibt auch keine Treffer. Und wer bitte soll den Kreisel am VIP-Center als „VIP-Kreisel“ an Ingress gesendet haben?

Gut für die Geschäfte vor Ort

Pokémon Go erreichte binnen weniger Wochen 100 Millionen Downloads und hat mehr als 30 Millionen aktive Spieler – täglich! Glück für die Verkäufer, deren Laden als Pokéstop gekennzeichnet ist, was das Geschäft ordentlich ankurbelt. Posten Besucher online, dass sie in einem Laden ein seltenes Pokémon gefangen haben, lockt das Gleichgesinnte an. Mittlerweile bietet etwa das Empfehlungsportal Yelp die Möglichkeit, Restaurants mit angrenzenden Pokéstops zu suchen. Amerikanische Spieler äußerten bereits, dass sie sich explizit für ein Restaurant entscheiden, in dem sich ein bestimmtes Pokémon aufhält.

Doch warum ist Elektroladen Müller so eine wichtige Anlaufstelle für das Spiel und Fachhandel Meyer nicht? Wieder die Frage nach der Herkunft der Daten, denn ein richtiges Angebot, mit In-App-Käufen die eigene Location dauerhaft zum Pokéstop zu machen, gibt es meines Erachtens nicht. Wobei das bestimmt nur eine Frage der Zeit ist. Aber die Läden können bereits für etwa 99 Cent ein Lockmodul erwerben, das seltene Pokémons für eine halbe Stunde in nahe gelegene Pokéstops lockt. Und nicht nur die, sondern auch die Spieler, die alle sehen können, wo so ein Modul aktiv ist, vielleicht gleich noch einen Blick in die Geschäftsauslage werfen oder sich für die halbe Stunde im Restaurant vor Ort niederlassen.

Wegweisend

Klar ist auch: Wie bei jedem Spiel sollte ich als Erziehungsberechtigter darauf achten, wie mein Kind damit umgeht. Wenn es nach meinem Sohn ginge, wäre das Smartphone dauerhaft in seiner Hand und ja: Er würde auch gegen Laternen laufen, weil er sich so darauf konzentriert. Pokémon Go ist so ein fesselnder Zeitvertreib – da muss es doch Möglichkeiten geben, das System für andere wichtige Dinge zu adaptieren? Eine Grundschulleiterin aus Belgien startete etwa das Projekt „Chasseurs de livres“, bei dem statt Taschenmonstern Bücher gejagt werden. Organisiert wird das Ganze über eine offene Facebook-Gruppe mit derzeit über 74.000 Mitgliedern. Solche Ideen werden aber erst der Anfang sein, denn der Erfolg von Pokémon Go wird Location-based Services und der Augmented Reality einen wichtigen Schub in den Massenmarkt geben und Angebote für Nerds hin zu gesellschaftsfähigen Anwendungen transformieren.

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